Birds 2013

Birds 2013
smatritje neba

18.9.15

New Castle on Tyne



Er sieht auf das geklöppelte Deckchen und streckt die Füße aus. Ja, er hat sein letztes Gartentürchen hinter sich zugezogen. Jetzt ist Zeit, zu sein.

Er öffnet die Botanisiertrommel. Oder steckt er seine Shag - Pfeife an, schüttet er etwas Holundersyrup in seinen Tee? Schaut er auf ihr dunkel gewordenes Bild? Sieht sie auf sein dunkel gewordenes Portrait?

Jedenfalls liegen getrocknete Rosenblätter auf dem Tisch, ist dies keine Erzählung vom Sterben.

Draußen ziehen hellgraue Wolken unter hellem Blau und über dem prächtigen Lila der Bougainvillen.

Er ißt Brombeeren. Dieses Jahr nur noch ein Viertel von den Sträuchern am Nordhang. Der Rest aus Südafrika. In diesen Beeren ist Englands Leiden eingewachsen, in denen das Südafrikas. Aber aufgebläht werden sie von den Wassern, die der Welt entzogen wurden. Es schmeckt fader als es sollte.

Aus dem Nachbargarten, hinter Eibisch und Grünheck klingen Säge-, Schleif-und Feilgeräusche hervor. Metall auf Metall. Der Sohn von Vater und Mutter der aufgemotzten Hutzelbude ist zugange. Er darf sein.

Wie so völlig ohne jede Rücksicht doch der Egoismus vor sich hin wirkt! Der alte Mann schüttelt den Kopf. Es ist doch auch Enge in der weiten Welt.

Wie gerne wüsste er doch, was sie bei ihrem Freund oder wenigstens bei ihrem Therapeuten über ihre Ehe gesagt hat! Aber würde er sie dann nicht zerstören? Das, was sie ihm war; das, was sie einander waren. Es war selbstverständlich nicht die "ganze" Person in all ihren Äußerungen und Innerlichkeiten. Aber ihm war sie dies und so und nicht anders.

Mag hinter diesem Lachen ein verborgener Vorbehalt spekuliert haben. Mag er ihm gegolten haben. Aber er gehörte dann zu all dem Unbekannten an ihr, das einen sehr großen Teil ihrer Anziehungskraft ausmachte, nicht zu dem, was ihn als Bekanntes zumeist freute. Das Leben in der dritten Dimension ist eben nur von einer Seite aus erkennbar. Die Rückseite gehört in die Vorstellung, ist Spekulation. So war May und sollte sein: Erinnerung. Nicht Berichtigung. -

Er sieht sie, er spürt ihre Haut. Er hört ihre Worte, kann sich sogar noch ihren Tonfall vergegenwärtigen. Viel von der Freude, sehr viel. Und eine Menge vom Ärger manchen Tages, nicht ganz so viel, war sie ihm gewesen. Gemeinsam waren fast alle Sorgen und die meisten Freuden. Und dennoch hatten sie viel Luft zum Atmen. Freiheit und Liebe, die mächtigen Antagonisten.

Eine Szene an einem fernen Strand. Er erinnert sich nicht so gut wie eine Fotografie an ihre Gestalt, ihre Schönheit. Beim Betrachten der Fotografie fällt ihm auf, wie wenig er damals von Schönheit wusste. Er hatte sie im Arm und -  simulierte über wichtige Wichtigkeiten des Egal, Eitelkeiten des Ich.

Und -  aber er verschwor sich einem Du.

Die Stiefel sind voll Lehm. Es ging durch Schlamm und Gräben. Er hat noch das Gelb der abgeernteten Felder und das schmutzige Gelb der abgeernteten Felder mit Sondersaaten vor Augen. Das Grau und Braun im Grün. Und das Grün im Grün. Den Regenhimmel. Wenn das nun sein Teil der Ewigkeit wäre? Er baute wieder einmal an einem Haus der Einsamkeit. - 

Immerhin :trocken und warm.
Und wenn sie wieder bei ihm einzöge?

Sie könnten einander Märchen erzählen. Denn was sind Erlebnisse anderes als Märchen?

Sie könnten zusammen aufbrechen zu den Menschen. Denn Menschen sind doch die Glücksperlen des Schicksals, sind auch einige Pestkugeln unter ihnen.

Da gibt es ein italienisches Café, in und an dem Italiener einander und begeisterten Engländern Italia profunde vorspielen. Bella, bella figura, ruft es in den Himmel des Supermarkts und drei japanische Studentinnen probieren mit verschämtem Anime-Lächeln scharfen Schnaps vom Winzertrost einer rheinischen Adipositas.

Es gibt auch Farben und Stifte.

Der Mord von  Bodom 1960: Was ist so schlimm daran, daß der Schuldige nicht gefunden wurde, es an Beweisen für den Einen oder Anderen fehlt? –

Die Angehörigen, die Lieben können über die bohrende Frage nicht zum Schmerz, zum Ich und Du kommen.

Vor dem Bahnhof Newcastle eine Demo Menschlichkeit. Junge Leute. Das Lächeln der Hoffnung und Brotherhood of Man erkennt man wieder. Die Musik versteht man nicht mehr.

Ihm wird leichter ums Herz.
*

Er erinnert sich an die Schmetterlingsbluse, bewegt aus der Hüfte, helles Weiß in der Sonne einer deutschen Spielzeugstadt. Aber in Wahrheit ist es die Zeit, was da bunt und weit vorbeizieht. Eine Frau kommt aus der Tür des Bekleidungsgeschäfts  hervor und ruft ihrem Mann, am Nebentisch des Eiscafés etwas zu, zeigt auf ihr T-shirt. Schön, wie sie froh zurückgibt, was sie als Freude empfing.

Dann sind die Eindrücke zu viel und er fällt zurück ins Dunkle. Trauer. Er kennt das inzwischen und nimmt sich vor, sich am Grund des Strudels angekommen kräftig wieder abzustoßen. Tatsächlich taucht er einige Zeit später wieder in der bunten Welt auf. Wie es vorbei zieht! Gedanken.

Aus dem Zugfenster blickend fielen ihm damals schöne Landschaften der Vorgebirge im Nachmittagslicht in die Augen. Das Plappern von Damen im hinteren Zugabteil sandte beruhigende Impulse des Harmlosen. Bevor Gedanken sich konkretisieren konnten, waren sie schon davon.

*
Am nächsten Morgen fasziniert ihn der Wellenflug der Tauben. Das Auf und Ab von Weiß und Grau im Vormittagsblau wird ihm zum Sinnbild der vom Leben bewegten Ewigkeit. Die Spur davon ist jetzt schon nur noch in seiner Erinnerung und vielleicht in der eines anderen Spaziergängers auf anderem Feld. Und so die Spur jenes ihm so wertvollen Lebens.

Einen anderen Tag möchte er näher den Wolken zu. Aber nicht an  s i e  denken. Die Äpfel verbrennen ins Rote, noch während sie fallen. Im Baum weißer Flaum. Das Gießwasser riecht nach fauligen Algen. Die Erde wird es filtern. Noch immer ist es schön warm.

Mit 16, so nimmt er an, hatte er seine erste Freundin. Man machte, was man später Petting nannte, cool aneinander reiben. Er war offensichtlich uninteressant. Man war cool gegen ihn? Von ihm gelangweilt, würde er heute sagen.

Jetzt weht es wie Mistral. Das stellt er sich jedenfalls unter diesem Begriff vor. Seine erste Erfahrung, wie man so sagt, war entsprechend spät. Das war wirklich nicht seine Kunst. Wenn Frauen, wie man hört, auch keinen großen Wert darauf legen, so legten sie doch Wert darauf.

Heute wachsen die Sportbuden in den Himmel mit breiten Korridoren ins Seniorenheim. Und die Buchläden versinken im Sand des Alles Egal. Man liest laue Wasser und Wind.

"Die Zeit scheint grenzenlos, alle Anstrengung nutzlos. Über allem liegt ein Gefühl der Vergänglichkeit. Und Liebe und Hass, dieser hellblaue Kreis."... Er legt Virginias Wellen zur Seite.

Australien oder Campingplatz auf Pretty Islands? Mag sie glücklich werden, wenn er nicht genügt. Das Herz stolpert weiter ins Morgen. Er geht mit. Aber besonders neugierig darauf ist er nicht.
*
Im Nachbarhaus bei natürlicher Geburt stürzt ein Baby in die Welt und schreit: "Freedom" Ist das der Redemption Day des Johnny Cash?

Wieviel Freiheit hast Du gelassen? Und wie ist es nun mit dem Tag der Abrechnung? Mit dem Einbruch des Endes in die Ewigkeit? Wirst Du rufen:"Befreie mich von mir! ", " Lass mich! " oder" Halte mich, solange ich noch bin! "?

Der zen-Meister tritt ein und erinnert daran, dass heute Dreck-weg-Tag ist. Den Schluck Single Malt schlägt er nicht ab." Träume nicht von Ewigkeit, solange Du noch etwas in ihr tun kannst! ", ruft er und ist schon wieder draußen.

Der treue Vän wartet schon mit einem Gläschen Roten, Jul Ratman spekuliert im Hintergrund und der Lätsche kommt auch schon angepackt, etwas zu ergattern. Das kann heiter werden!
Hat er das nicht schon einmal erlebt? In Räumen des Wichtig?

*

Und dieser Raum
gefüllt mit Wirklichkeit.
Du bist so fern.

Wie gern
ich Dich hatte,
hab ich nicht gezeigt.

Ich steige in die Erinnerung hinab.
Aber das Licht ist trübe
und Spinnweben greifen ins Haar.

Ach, lasst mich noch einen Augenblick sehnen,
schon steige ich zurück
in den Raum
gefüllt mit Wirklichkeit.

Hinauszugehen,
ich komme
Ihr Treuen.

*

Warum ist er nicht Bäcker statt Clerk geworden? Das geringe Einkommen, die unsichere Arbeitsplatz - Situation, die groben Bosse. Ansonsten sah er keinen prinzipiellen Unterschied darin, immer wieder die gleiche graue Masse an Teig oder Alltagsentschließung zu ansehnlichen Brötchen zu backen.

Heute, nach der Sauerstoffdusche beim Schneiden der Buchs-Hecke gibt es plötzlich dramatische Wolkenbildungen. Aus düsteren, ausgefransten Wolken stechende Sonnenstrahlen. Ein Regenguß durchnässt die Passanten. Hoffnungen ertrinken in Pfützen. Wo sind die Spatzen der Kindheit?

In Tyneside: Was ist so schön an alten Fassaden? Ihm: Alle sind arm. Die Auflösung der Gesellschaft in Haß-Tribale ist noch nicht begonnen. Es gibt noch die Möglichkeit von Interesse an dem Menschen, der unter dieser schrägen Mütze, unter diesem formverlorenen Kleid steckt. Kinder haben wohl mehr Hoffnung, Alte etwas mehr Zuspruch. Es ist vielleicht nur tröstliche Einbildung. Aber auch als solche: Sie hilft.

Und er spürt den sanften starken Druck und Zug an seinen Beinen. Die Flut der von Einsamkeit geborenen Sehnsucht hat all seine ästhetischen und ethischen Vorbehalte erreicht. Und unmerkliche Liebe reißt ihn aus den abgesicherten Vorsätzen des Ich.

You say vanity,
It's Your little room of eternity.
And Marianne sings
It's nothing
But love
More or less.

So the end is near,
Listen: the wings of the hour,
See the beauty in the mirror
Of the moment.

And feel the old and new
You under that skin
Of shivering doubt.

Er öffnet die Augen. Draußen schwimmen Wolken aus dem Blau ins Blau.

Klaus Wachowski 18.9.15

7.9.15

RAUM

Und dieser Raum
gefüllt mit Wirklichkeit.
Du bist so fern.

Wie gern
ich Dich hatte,
hab ich nicht gezeigt.

Ich steige in die Erinnerung hinab.
Aber das Licht ist trübe
und Spinnweben greifen ins Haar.

Ach, lasst mich noch einen Augenblick sehnen,
schon steige ich zurück
in den Raum
gefüllt mit Wirklichkeit.

Hinauszugehen,
zuvor noch einmal die Augen schließen,
ich komme schon,
Ihr Treuen.